Benefiz-Lesung mit Angelika Klüssendorf
Am 8. Mai 2014 hatte unser Zonta Club Frankfurt II Rhein-Main zu einer Lesung mit der aktuellen Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim ins Restaurant MainNizza eingeladen. Nach der herzlichen Begrüßung durch unsere Präsidentin Renate v. Köller stellten zwei Betreuerinnen aus dem Verein FeM Mädchenhaus Frankfurt das Projekt vor, das wir mit dem Erlös dieses Abends unterstützen wollen. Es handelt sich um ein neues Projekt im Bereich der „Mädchenzuflucht“. Die Zuflucht ist eine Anlaufstelle für Mädchen und junge Frauen im Alter von 12 bis 17 Jahren, die hier rund um die Uhr in Not- und Krisensituationen kurzfristige Unterkunft, Betreuung und Schutz vor Bedrohung finden. Sie ist anonym, um die Sicherheit und den Schutz der Mädchen zu gewährleisten. Nach dem Kinderjungendhilfe-Gesetz ist diese Hilfe auf minderjährige Mädchen bis 17 Jahre beschränkt. Viele der betroffenen Mädchen fassen jedoch erst den Mut, nach Hilfe zu suchen, wenn sie volljährig geworden sind. Deshalb will man bei der Zuflucht diese Lücke schließen und in Zukunft auch 18-jährigen Mädchen oder Frauen helfen, die in einem klassischen Frauenhaus nicht gut versorgt werden könnten.
Präsidentin Renate v. Köller (Alle weiteren Fotos © Ruth M. Nitz) |
Frau Butz (li.) und Frau Jovic vom Verein FeM Mädchenhaus (Foto © Erhard Metz) |
Der hr-Kulturredakteur Dr. Ulrich Sonnenschein moderierte die Lesung und stellte Angelika Klüssendorf einleitend vor.
Angelika Klüssendorf |
Sie ist der 40. „Stadtschreiber von Bergen“, wie der offizielle Name dieses angesehenen Literaturpreises lautet, und erst die neunte Frau. Sie wurde während eines Urlaubs der Eltern 1958 in Ahrensburg in Schleswig-Holstein geboren, und lebte bis zu ihrer Ausreise nach Berlin im Jahr 1985 in Leipzig. Heute bewohnt sie eine alte umgebaute Backsteinscheune in einem beschaulichen Ort in Brandenburg. Mit ihrem viel beachteten Roman „Das Mädchen“ (2011) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Aus diesem Buch las sie zunächst. |
Es ist die Geschichte eines zu Beginn des Romans 12-jährigen Mädchens, das in den 70er Jahren mit seinem sechsjährigen Bruder in Leipzig verwahrlost aufwächst in einem Umfeld von Armut, Gewalt und Alkoholismus. Zuneigung und Liebe sind ihr fremd. Der Vater trinkt, taucht nur hin und wieder auf, die Mutter tyrannisiert die Kinder, schlägt sie mit dem Ledergurt, sperrt sie tagelang ein. Im Keller findet das Mädchen in Büchern so etwas wie einen Rettungsanker für die Seele; beim Lesen von Grimms Märchen und Brehm’s Tierleben beispielsweise spürt auch sie Emotionen. Das Mädchen flieht immer wieder, wird beim Ladendiebstahl erwischt, aufgegriffen und landet schließlich im Kinderheim. Sie macht ihren Schulabschluss mit schlechtem Zeugnis, beginnt in einer LPG eine Lehre als Zootechniker/Mechanisator und landet in einer Melkanlage. Damit endet die Geschichte des jetzt 17-jährigen Mädchens.
Nach einem ersten Gespräch zwischen der Autorin und dem Moderator gab es die Möglichkeit zum Bücherkauf; Angelika Klüssendorf signierte auf Wunsch.
Anschließend las sie weiter aus ihrem im Februar dieses Jahres erschienenen Buch „April“. Es ist der Nachfolgeroman von „Das Mädchen“, und das hat jetzt einen Namen, nämlich „April“. Den hat sie sich selbst gegeben – nach einem Song von Deep Purple. Der Name passt auch gut zu ihr: Ihre Launen sind so wechselhaft wie das Wetter im April. Nun ist sie 18, arbeitet in verschiedenen Jobs und wohnt zur Untermiete. Sie ist noch immer verletzlich, landet nach einem misslungenen Selbstmordversuch in der Psychiatrie, wird allmählich stärker und selbstbewusster und Mutter eines Sohnes. Mitte der 80er Jahre wird sie mit Mann und Kind aus der DDR ausgewiesen und baut sich in West-Berlin eine neue Existenz auf. Sie putzt, arbeitet als Küchenhilfe und schreibt Gedichte und Erzählungen. Sechs Jahre umfasst dieser Roman, und am Ende scheint Aprils Zukunft durchaus hoffnungsvoll.
Die Autorin beim Signieren der Bücher |
Angelika Klüssendorf und Moderator Dr. Ulrich Sonnenschein im Gespräch |
Eine Bereicherung für den Abend war Dr. Ulrich Sonnenschein, der als Moderator überaus feinfühlig die autobiografischen Parallelen im Leben der Protagonistinnen und der Autorin herausarbeitete. Es ist in vielen Facetten ihre eigene Geschichte. Dennoch ist sie fiktiv, kein historischer Roman, denn es wird nur eine Lebensgeschichte beschrieben, die überall spielen könnte. Weil sie aber auch autobiografische Züge hat, spielt sie eben in der DDR. Nie bewertet Angelika Klüssendorf Situationen, das überlässt sie den Leserinnen und Lesern. Empathie ist ihr fremd. Sie erzählt im Präsenz und in der dritten Person. Ihr Schreibstil ist unsentimental und nüchtern, ihre Sprache knapp, präzise und eindringlich. Ihre Tage sind heute, insbesondere wenn sie schreibt, genau getaktet. Nach dem Durcheinander in der Kindheit braucht sie heute diese verlässliche Ordnung. Wenn ein Buch fertig ist, entsorgt sie alle Entwürfe.
Ob “Das Mädchen / April“, das wir auf seinem Weg von der Jugend ins Erwachsenenleben in den beiden Büchern kennen gelernt haben, vielleicht eine Fortsetzung finden wird? Wer weiß? Ausgeschlossen hat es Angelika Klüssendorf an diesem Abend nicht. Vielleicht hat sie ja mit dem Schlusssatz des zweiten Buches, den der Moderator abschließend zitierte, schon den Folgeroman vor Augen. Darin findet April nämlich ein Kinderfoto, auf dem sie ein Lächeln in den Augen des Kindes entdeckt, das sie einmal war… |
Wir danken allen Beteiligten, die an diesem Abend mitgewirkt haben, herzlich und freuen uns sehr, dem FeM Mädchenhaus eine Spende in Höhe von 3.000 Euro überreichen zu können, damit das vorgestellte Projekt im Bereich „Mädchenzuflucht“ gestartet werden kann.
Ruth M. Nitz
ZC Frankfurt II Rhein-Main